Migrantischer Widerstand der 1980er- und 1990er-Jahre
Zusammen mit der rassistischen Stimmung stieg seit 1980 auch die Anzahl rassistischer Angriffe und Morde. Dagegen setzten sich migrantische Jugendliche in „Jugendgangs“ zur Wehr. Diese Gangs verteidigten sich gegen Angriffe von Neonazis und rechten Skinheads. Zugleich dienten sie der Selbstbehauptung in einer Gesellschaft, die sie von vielen Orten und Möglichkeiten ausschloss. In Hamburg entstanden Gangs wie die Champs in St. Pauli oder die Red Bombers in Bergedorf.
„Die bekannteste Jugendgruppe waren die ‚Wilhelmsburger Türken Boys‘, die WTB! Nach Wilhelmsburg traute sich kein Nazi.“
Perihan Zeran von der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı, in: ZAG – antirassistische Zeitschrift, 2010
Politik und Polizei gingen gegen die migrantisch-geprägten Jugendgangs sehr viel schärfer vor als gegen die organisierten Skinheads, deren Gewalt oft entpolitisiert und nur wenig sanktioniert wurde. Viele Gangs lösten sich daher nach kurzer Zeit wieder auf.

Im Dezember 1985 wurde Ramazan Avcı von rechten Skinheads auf offener Straße erschlagen. Sein Tod löste bei Menschen aus der Türkei große Betroffenheit und Wut aus. Kulturvereine, Sportvereine, Moscheen und linke Gruppierungen aus der Türkei schlossen sich zu einem überparteilichen „Bündnis türkischer Einwanderer“ zusammen und riefen zu einer Großdemonstration am 11. Januar 1986 auf. Das Bündnis forderte nicht nur ein Ende der rassistischen Gewalt, sondern auch soziale Rechte wie ein Niederlassungsrecht für die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Arbeitsmigrant*innen. In den darauffolgenden Jahren entstand aus dem Bündnis die „Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.“, die sich als Interessensvertretung türkischstämmiger Deutscher versteht.

An dem Bündnis war auch das Volkshaus der Türkei beteiligt, in dem sich Ende der 1970er-Jahre verschiedene linke Gruppen aus der Türkei zusammengeschlossen hatten. Im Zuge des Militärputschs 1980 in der Türkei kamen viele weitere Menschen nach Hamburg und brachten ihre politische Erfahrung mit in das Volkshaus, das sie in der ehemaligen Rindermarkthalle St. Pauli einrichteten. Viele Initiativen gegen Rassismus gingen von dort aus: 1991 entstand die „Widerstandsinitiative gegen Rassismus“, die sich für eine Ramazan-Avcı-Straße als Zeichen gegen Rassismus einsetzte. Nachdem am 29. Mai 1993 Hatice Genç, Hülya Genç, Saime Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk bei dem rassistischen Brandanschlag in Solingen getötet worden waren, organisierten Aktivist*innen aus dem Volkshaus einen Tag des Streiks in Hamburg. Am 2. Juni 1993 blieben viele Läden von Migrant*innen geschlossen und Tausende, vor allem migrantische Jugendliche, kamen zu einer Demonstration auf dem Rathausmarkt zusammen. Bis zum Umbau der Rindermarkthalle war das Volkshaus über 30 Jahre lang ein wichtiger Ort der Selbstorganisation und des Zusammenkommens von Migrant*innen, Geflüchteten, Sinti*ze und Rom*nja sowie linken Aktivist*innen.

Sinti*ze und Rom*nja organisierten sich in Hamburg bereits Mitte der 1970er-Jahre in der Rom und Cinti Union e.V. Der 1982 offiziell eingetragene Verein setzt sich seither mit vielfältigen Aktionen, darunter Hungerstreiks und Besetzungen für eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti*ze und Rom*nja, gegen antiziganistische Diskriminierung und für ein Bleiberecht der von Abschiebung bedrohten Rom*nja aus der Bundesrepublik ein.

Bei vielen Aktionen gegen Rassismus und rechte Gewalt in Hamburg arbeiteten die hier genannten Gruppen mit weiteren politischen Zusammenschlüssen, z.B. von Geflüchteten, eng zusammen. Gemeinsam demonstrierten sie etwa nach dem sogenannten Asylkompromiss 1993, der als faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland kritisiert wird.
Weitere Beispiele migrantischer und antirassistischer Widerstandsformen zeigt die 2021 veröffentlichte Wandzeitung Migrantischer Widerstand im Hamburg der 1990er-Jahre des Soziologen und Aktivisten Gürsel Yildirim.